widersprüchliche Gefühle

23.6.2016

'De mortibus nil nisi bene' - 'über die Toten nur gut reden' ist eine alte lateinische Vorschrift und wird in den meisten Kulturen vertreten. Was aber, wenn man zu Verstorbenen gemischte Gefühle hegt? Tatsächlich kommen Vernachlässigung, Entwertung, sogar Missbrauch und Gewalt sehr häufig in Familien vor. Viele Betroffene erleben, wie sie innerlich zerrissen sind zwischen Liebe und Abneigung, zwischen Verbundenheit und Abstossung. Wie kann man unter diesen Umständen inneren Frieden finden? 

Sie haben vielleicht bereits von diesem Phänomen gehört: Ambivalenz. Es meint das zeitgleiche Vorhandensein von unterschiedlichen Gefühlen oder Handlungsimpulsen. Grundsätzlich ist dies ganz normal, der Mensch ist innerlich regelmässig 'gespalten'. Obwohl das oft so missverstanden wird, hat es nichts mit der Krankheit Schiophrenie zu tun. Zu den meisten Aspekten unseres Lebens haben wir gespaltene Gefühle: wir lieben unsere Familie, brauchen aber auch unsere Freiheit. Wir schätzen unsere Arbeit, könnten aber getrost auf den einen oder anderen Kollegen oder Kunden verzichten. Wir mögen Pommes Frites, wissen aber, dass ein Salatteller die gesündere Wahl ist. Tagtäglich leben wir mit Ambivalenz und kommen meist damit gut klar.

Wenn es aber um grosse Gefühle geht, sind wir oft überfordert. In solchen Situationen reagieren die meisten Menschen mit den häufigsten Reaktionsmustern: Verdrängen, Ignorieren, Ablenken. Grundsätzlich spricht nichts gegen diese, wenn die Sache von selbst vorbei geht. Tun aber gerade Gefühle nach Verlust oder Trennung oft nicht. Viele Betroffene hadern mit der Vergangenheit, mit Eltern, Ex-Partnern, sogar ehemaligen Vorgesetzten oder Kollegen. Dadurch werden Gefühle und somit auch Energie gebunden. Dies zeigt sich im Alltag durch Müdigkeit, Reagieren in alten Mustern; es kann aber auch zu Gereiztheit, Rückzug oder gar zu Depression führen.

Das Problem der Ambivalenz: unsere Kultur denkt schwarz-weiss.

Widersprüchliche Gefühle wären kein Problem, hätten wir nicht die Erwartung an uns, sie nicht zu haben. - Hä, wie was? Was denn nun? - Ja, wie erwähnt gehört Ambivalenz zum Leben, sie ist ein Ausdruck unserer Vielseitigkeit. Dummerweise leben wir in einer Kultur, die uns nicht beigebracht hat, damit sinnvoll umzugehen. Die meisten Menschen, auch wenn sie nicht religiös sind, glauben an den Kampf zwischen Gut und Böse, wobei immer irgendwie Gott und der Teufel mitschwingen. Würde man die alte Spaltung und die damit verbundene Moral für ein paar Momente ausser acht lassen, könnte man leicht erkennen, dass jeder Mensch 'gute' und 'böse' Seiten oder Persönlichkeits-Anteile in sich trägt. In jeder Kultur gibt es die Maxime, dass man anderen nicht zuführen soll, was man selber nicht gerne hat. Dies ist 'gut'. Und die meisten von uns spüren gelegentlich den Drang, genau dies zu tun: dem anderen etwas anzutun, was man selber nicht gerne hat. Das ist 'böse'. Und dies ist normal, es ist natürlich. Wir sind eben keine Engel, auch wenn den Menschen in unserer Kultur über Jahrhunderte hinweg gepredigt wurde, danach zu streben.

Wir können lernen, mit widersprüchlichen Gefühlen zu leben.

Es ist nicht so schwierig, wie es sich anfühlt. Aber es erfordert, unsere gewohnte Denkweise von schwarz-weiss zu ändern. Dies ist verständlicherweise eine grössere Sache und umso schwieriger, je länger man bereits damit gelebt hat. Am Anfang empfiehlt sich eine saubere Motivationsklärung. Will ich wirklich an meinen Grenzen arbeiten, gewohnte Denkmuster überarbeiten und mir neue aneignen? Die Entscheidung sollte nicht leichtfertigt getroffen werden, in diesem Prozess gibt es bereits genug Material für Frustrationserleben. Natürlich kann es helfen, sich des Schmerzes, der durch das alte schwarz-weiss-Denken entstanden ist, immer wieder bewusst zu werden. 

Ist die Absicht klar formuliert, geht es an den ersten und typischerweise schwierigsten Schritt: Akzeptanz. Ich akzeptiere, dass ich widersprüchliche Gefühle und Gedanken in mir trage. Ich akzeptiere, dass ich einer (verstorbenen) Person gegenüber böse bin für das, was sie mir angetan hat - und dass ich diese Person vermisse. Ich akzeptiere, dass ich nie werden wollte wie eine bestimmte Person - und nun beobachte, wie sich immer mehr ihrer Wesensart in mir zeigt. Ich akzeptiere die Liebe und Verständnis wie auch den Hass und Ablehnung in mir.

Natürlich ist es nicht mit der Absicht getan. Akzeptanz bedarf der Übung. Dabei empfehle ich die Technik des Pendelns: Ich beobachte, wie ein Teil in mir die Ambivalenz ablehnt mit der Erwartung von entwder-oder. Ein anderer Teil, den ich ebenfalls beobachten kann, vertritt die Meinung, dass Ambivalenz normal ist. Meine Aufmerksamkeit pendelt zwischen diesen beiden Teilen hin und her, am besten begleitet von langsamem, tiefen Atmen. In der Kurzform:

Ablehnung ... atmen ... Akezptanz ... atmen ... Ablehnung ... atmen ... Akezptanz ... atmen, etc.

Wenn Sie bei sich selbst beobachten, wie es in Ihnen etwas ruhiger wird (nach Tagen oder Wochen ), können Sie sich gerne den zweiten Schritt zu Gemüte führen: Integration von widersprüchlichen Gefühlen.